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Warum der Briefträger wichtiger ist als der E-Mailserver

Apple hat mit dem neuen Update für seine Smartphones eine neue Anzeige geschaffen, die heißt Bildschirmzeit. Da kann ich jetzt sehen, wie lange ich an meinem iPhone so herumhänge. Und seit ich weiß, was ich immer vermutete, geht es mir noch viel schlechter.

Als Symbol hat diese App immerhin so eine schöne langsame Sanduhr, allein das beruhigt mich schon. Wenn ich dann darauf klicke, zeigt mir die App aber nicht nur an, wie lange ich am Handy war, sondern auch was ich da die ganze Zeit mit gemacht habe. So habe ich jetzt schwarz auf weiß, womit ich meine Zeit verplempere.

Heute war ich also 3 Stunden und 37 Minuten aktiv an meinem iPhone. Ich habe aber natürlich herausgefunden, dass auch die Zeit gezählt wird, wenn mein iPhone ungesperrt herumliegt. Und wenn dann auch noch eine App geöffnet ist, zählt das auch. Also, so schlimm ist das also gar nicht.

Aber lassen wir all die Ausreden mal beiseite: ich bin viel zu viel am Handy. Punkt. Alleine 54 mal habe ich heute das Handy in die Hand genommen und aktiviert. Bei 16 Stunden wach sein sind das über dreimal pro Stunde oder alle 20 Minuten. Über 60 Mitteilungen bekomme ich pro Tag („Waaaaas, so wenig??“). Und immer wenn es piept – ich gebe es zu – ist das sehr verlockend für mich, auf mein Handy zu schauen. Ja, ich bin abhängig vom Gepiepe. Und: es macht mich verrückt.

Letzte Woche habe ich mit drei Freunden zusammen eine Veranstaltung in der Göttinger Stadthalle mit über 550 Teilnehmern gemacht, den Mutmacher-Gipfel. Ich habe da herumgefragt, wer keinHandy hat. Eine Person hat sich gemeldet. Und die hat dann von den anderen 549 Menschen Applaus dafür bekommen. Unerreichbarkeit ist der neue Luxus.

Alle anderen haben also eine Dauererreichbarkeit und sehnen sich aber irgendwie danach, keine zu haben? Hmmm. Schauen wir mal zurück:

Es ging in der fernschriftlichen Kommunikation einmal los mit so etwas wie dem handverfassten Brief. Den hat dann eine Taube oder ein Bote einem anderen Menschen vorbeigebracht. Ein Bote ist sogar mal so lange so schnell gelaufen, dass er danach tot umgekippt ist. Seitdem wollen ihm viele nacheifern und laufen deswegen 42,195 km für eine Urkunde, nur um zu gucken, ob sie danach auch tot umfallen – oder noch leben, um dann ein Foto bei Facebook zu posten, dass sie nun sehr verschwitzt, aber sehr, wirklich sehr sehr glücklich seien und dass sich die ganze Entbehrung gelohnt habe. Wem gut 42 km zu komplizert sind, der kann auch die Hälfte laufen und darf das trotzdem bei Facebook posten.

Aber zurück zum Boten: Da ich auf dem Land aufgewachsen bin, kam der Biefträger bei uns meistens erst um 12 Uhr, wenn alle anderen aus der Stadt schon vor der Schule wussten, dass ein blauer Brief angekommen war und ihn aus dem Briefkasten fischen konnten. Aber es gab auch schöne Briefe. Von Nina aus der zweiten Klasse zum Beispiel. Die wollte zwar nicht mit mir gehen, aber man könne ja trotzdem ein Eis zusammen essen.

Einen Brief oder eine Postkarte im Briefkasten zu haben war etwas Wunderbares. Da hat jemand mit der eigenen Handschrift etwas geschrieben und ich wusste: der hat das nur für mich gemacht und er hat sich Zeit genommen, und nachgedacht und er ist dann auch noch zum Postkasten für mich gelaufen.

Eines Abends kam mein Vater nach Hause mit einem Karton und holte ein Gerät mit einem Kabel dran heraus. Das hat er dann in die Steckdose gesteckt und gesagt: „Das ist ein Fax, mein Sohn. Jetzt kannst Du einen Brief schreiben, den hier reinstecken und dann kommt er bei Deinem Freund zu Hause im Büro wieder raus .“

Daraufhin fing ich also an, Faxe an meine Freunde zu schreiben. Wir saßen Stunden vor dem Gerät und warteten, bis ein Stück Thermopapier mit vergilbter Schrift herauskam. Das war ganz toll. Und der Briefkasten blieb leer.

Eines Abends kam dann mein Vater nach Hause und brachte wieder einen Karton mit. Darin war ein noch größeres Gerät als das Faxgerät, und ein Monitor. Beide hatten ein Kabel und er steckte beide Stecker in die Steckdose. Nachdem er das Gerät dann einschaltete, öffnete er ein Programm und sagte mir, dass ich jetzt E-Mails statt Briefe und Faxe verschicken kann. Aus dem neuen Gerät kam dann auch kein Papier mehr heraus, sondern es tauchte nur eine Schrift auf dem Monitor auf. Der Briefkasten blieb leer. Und ich hatte nichts mehr in der Hand.

Immer wenn etwas aus dem virtuellen Briefkasten aus dem Monitor heraus kam, machte es Ping – und ich war wie aufgescheucht. Je öfter es Ping machte, desto glücklicher war ich. Wenn es aber weniger Ping machte, fühlte ich mich komisch und dachte, dass ich wohl nicht so wichtig sei, wenn es bei mir nicht so oft Ping machte. Ich erwartete doch, dass es Ping machen müsste. Irgendwas war anders als die Sache mit den Briefen, damals, am Briefkasten.

Eines Abends kam mein Vater dann mit einem ganz kleinen Gerät nach Hause. Das brauchte gar kein Kabel mehr, denn es hatte eine Batterie in seinem Inneren. Und er sagte mir, dass ich jetzt gar keinen Stecker mehr brauche und auch gar keine Briefe mehr schreiben müsse und erst recht keine E-Mail mehr und ich bräuchte auch nicht mehr im Büro zu sitzen. Denn der Brief, also der von damals, der hieße jetzt SMS. Damit könne ich zwar nur 140 Zeichen schicken und jede dieser SMS koste 39 Pfennige, aber sie käme sofortan. Ich müsse also nicht lange warten und es brauche auch keinen Briefträger und keinen Briefkasten, sondern der andere erfährt sofort davon, wie es mir geht oder was er eben wissen muss. Also fing ich an, SMS zu schreiben. Von überall. Und der Briefkasten blieb leer.

Eines Abends kam mein Vater dann mit einem neuen Gerät nach Hause. Das sah ähnlich aus wie das Gerät vorher, hatte aber keine Tasten mehr. Und der Vorteil war, dass ich jetzt sehen konnte, wann und ob derjenige, dem ich etwas schrieb, meinen Mini-Brief auch gelesen hatte. Und das Versenden kostete gar nichts mehr extra, auch brauchte ich mich nicht mehr auf 140 Zeichen zu beschränken. Das war wie eine neue Freiheit. Und der Clou: ich konnte sehen, wann der andere zuletzt an seinem Gerät aktiv war – und so konnte ich mir jetzt regelmäßig die Frage stellen und darüber grübeln, warum er mir nach einer Minute immer noch nicht geantwortet hatte, obwohl er meinen elektronischen Brief erhalten hatte. Ich verlernte, zu warten. Und der Briefkasten blieb leer.

Schon längst war ich fortan nicht nur daran gewöhnt, dass das Gerät, dass ich nun ständig bei mir trug, piepste und mir so zeigte, dass jemand an mich denkt oder ich gebraucht werde. Das war zumindest mein Gefühl: gebraucht zu werden. Nein, es wurde irgendwie mehr: wenn es stumm blieb, wurde ich unruhig.

Ich war die letzten sieben Tage im Schnitt zweieinhalb Stunden pro Tag an meinem iPhone. Über WhatsApp habe ich insgesamt 288 Nachrichten bekommen. Das sind über 40 pro Tag. Ich habe noch nie 40 Briefe pro Tag bekommen. Aber wenn, dann hätte es mich unwahrscheinlich gefreut. Über 40 WhatsApp-Nachrichten am Tag zu bekommen überfordert mich. Andauernd piept und bimmelt es. Ich sehne mich danach, einen handgeschriebenen Brief aus dem Briefkasten zu holen. Da würde mir einer pro Woche schon zur Freude gereichen, denn er, dieser Brief, steht für etwas, das ich vermisse: etwas Beruhigendes, Langsames, Persönliches.

Ich schalte mein Smartphone jetzt ab und setze mich hin und schreibe einen Brief an einen Freund. Mit Stift und Papier. Und werfe ihn in den Briefkasten. Denn mir soll – zumindest ab und zu – der Briefträger wieder näher sein als der eMailserver.

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